Interview mit Carlos FuentesDieses Interview mit dem Schriftsteller Carlos Fuentes führte die Journalistin Martina Scherf in Frankfurt anläßlich seiner Lesung aus dem Roman "Die Jahre mit Laura Díaz". Der ehemalige Botschafter kommentiert neben diesem Titel die gegenwärtige Entwicklung der mexikanischen Gesellschaft und die Bedeutung der Frauen für seine Arbeit.
Nur Pessimisten schreiben gute Bücher
Carlos Fuentes über die Probleme Mexikos, seinen neuen Roman und seine
Großmütter.
Carlos Fuentes, 71, zählt zu den bekanntesten Schriftstellern Lateinamerikas.
Der Sohn eines Diplomaten studierte Jura und wurde später mexikanischer Botschafter
in Paris. Sein umfangreiches literarisches Werk erhielt viele internationale
Auszeichnungen. Als Essayist und Kommentator engagiert sich Fuentes bis heute
für die Entwicklung der Demokratie in Lateinamerika und den Nord-Süd-Dialog.
SZ: Sie haben mit diesem Roman Ihre Familiengeschichte niedergeschrieben
und gleichzeitig ein Resümee aus dem vergangenen Jahrhundert gezogen - ein
sehr pessimistisches Resümee.
Fuentes: Kennen Sie einen optimistischen Roman? Stellen Sie sich vor, Madame
Bovary hätte eine American Express Card gehabt und sich alle Wünsche erfüllen
können, das wäre niemals ein Roman geworden. . .
Sie sprechen vom 20. Jahrhundert, das Sie aus der Sicht europäischer Einwanderer
in Mexiko schildern, als einem der schrecklichsten Jahrhunderte der Geschichte.
Sind wir jetzt an einem Wendepunkt angelangt?
Das Datum hat sich geändert, die Wirklichkeit nicht. Im 20. Jahrhundert hatten
wir alle Mittel, das Leben besser zu gestalten und investierten sie in Holocausts,
Gulags, Weltkriege, Rüstungswettläufe. Leider deutet nichts darauf hin, dass
das 21. Jahrhundert besser wird. Also, wenn Sie mich einen Pessimisten nennen,
würde ich mit Oscar Wilde antworten: Pessimismus ist ein informierter Optimismus.
Am Ende Ihres Buches wandert der junge, verliebte Urenkel von Laura Díaz
durch Los Angeles und erlebt die multikulturelle Stadt wie ein modernes Byzanz.
Ist da doch eine Vision?
Die Chance ist zumindest da. Wir können das Paradies wohl nur im Privaten
erreichen. Wenn wir das schaffen, können wir vielleicht auch die Welt verbessern.
Laura hat fast ihre ganze Familie verloren, doch in ihren alten Tagen strahlt
sie Weisheit und Lebensenergie aus. Hat die Figur Entsprechungen in Ihrer
Familie?
Oh ja, sie ist eine Synthese meiner beiden Großmütter. Beide waren früh Witwen
und haben harte Lebensproben bestanden. Sie haben mir bis ins Teenageralter
viele Geschichten erzählt. Meine Großmutter mütterlicherseits stammte von
deutschen Einwanderern ab, ihr Vater, ein Anhänger von Lassalle, floh vor
Bismarck nach Mexiko. So hängt meine Familiengeschichte vom Eisernen Kanzler
ab! Seltsamerweise habe ich 50 Jahre gebraucht, um all das aufzuschreiben.
Wir sehen in der lateinamerikanischen Kultur immer den Machismo. Welche
Rolle spielt die Frau im modernen Mexiko?
Die Männer in Mexiko können manchmal brutale Machos oder Don Juans sein, aber
die Frauen sind das Rückgrat der Gesellschaft. Früher hatten sie eine Art
moralischer Hoheit, aber heute, darüber bin ich froh, ist es ihre Unabhängigkeit,
die sie stark macht. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt, nehmen am Business,
in der Politik und der Kunst teil.
Ist das jetzt nicht sehr optimistisch?
Natürlich spreche ich hier von der Ober- und Mittelklasse und nicht von der
Landbevölkerung. Aber fast 60 Prozent der Mexikaner leben heute in Städten,
und der Anteil der Frauen in führenden Positionen der Gesellschaft ist enorm
gewachsen. Für mich ist das einer der wichtigsten Schritte in Richtung wahrer
Demokratie. Okay, wir haben noch keine Präsidentin, aber das haben ja noch
nicht mal die USA.
Die junge Laura Díaz verlässt in den zwanziger Jahren Mann und Kinder,
um in die Bohème von Mexiko City einzutauchen. War die Bohème zu jener Zeit
ein Motor der Gesellschaft?
Durchaus. Mexiko City war damals höchstens so groß wie München. Da kannte
man sich. Und die sozialistische Revolution hatte zu einem großen Selbstbewusstsein
geführt. Es gab ein explosives Gemisch von Künstlern, Architekten, Musikern,
Literaten.
Spielt die Szene heute noch eine Rolle?
Die Stadt ist heute mit fast 20 Millionen Einwohnern viel zu groß. Wenn Sie
jemanden kennen lernen und gerne wiedersähen, der aber am anderen Ende der
Stadt wohnt, heißt es gleich: adios. Leider hat das auch das intellektuelle
Leben der Stadt sehr verändert.
Welche Rolle spielen die Intellektuellen im heutigen Mexiko?
Bis in die sechziger Jahre hatten sie eine wichtige Funktion: Sie gaben den
Bürgern eine Stimme. Heute sind die civil societies - Gewerkschaften, soziale
Einrichtungen, Kirchen, Parteien, Frauenvereine, Schwulenbewegung, Menschenrechtsverbände,
Medien - sehr stark. Der Schriftsteller muss sich nicht mehr so sehr sozial
engagieren. Doch er hat die Verpflichtung, Phantasie und Sprache lebendig
zu erhalten. Wenn wir das verlören, bekämen wir ein Problem.
Marcos, der Poet und Anführer des Indianer-Aufstandes von Chiapas, ist
vor sechs Jahren in einen Dialog mit Ihnen und anderen Schriftstellern eingetreten.
Im Sommer wird in Mexiko wieder gewählt. Hält dieser Dialog noch an?
Nein, Marcos hat sich im Dschungel vergraben. Ich weiß aber nicht, was im
Wahlkampf noch passieren wird. Das Problem ist die enorme soziale Ungleichheit
in einem reichen Land wie Mexiko.
Engagieren Sie sich noch im Menschenrechtskomitee?
Weniger, weil ich jetzt viel in Europa arbeite. Aber in den Medien halte ich
den Diskurs über Aufklärung und Demokratie in Gang.
Der Eiserne Vorhang in Europa ist gefallen, doch die Amerikaner haben eine
Mauer zwischen Nord und Süd an der Grenze zu Mexiko errichtet. Hier prallen
zwei Welten aufeinander. Sie haben darüber einen eigenen Roman ("Die gläserne
Grenze") geschrieben. Sehen Sie in der Globalisierung mehr Chancen oder mehr
Risiken für die Menschen?
Die Globalisierung hat zwei Gesichter: Die Bewegung des Kapitals in Sekundenschnelle
über den Globus, ohne Rücksicht auf Verluste, ist fatal. Ein Großteil der
Menschen hat keinen Anteil am technologischen Fortschritt. Das nenne ich globalen
Darwinismus. Und die Politiker sollten wissen: Wenn die Märkte sich gegen
die Menschen richten, werden die Menschen die Feinde des Marktes. Auf der
anderen Seite erleben wir eine Ausdehnung der Informationsgesellschaft. Dass
wir den Fall Pinochet weltweit diskutieren, ist ein echter Fortschritt.
Noch einmal zurück zu Laura: Sie beschreiben die inneren Konflikte dieser
Frau mit sehr viel Einfühlungsvermögen. Was hat Sie veranlasst, eine weibliche
Hauptfigur zu wählen?
In den sechziger Jahren schrieb ich den Roman "Nichts als das Leben", der
heute noch in Mexiko sehr beliebt ist und dessen Hauptfigur die Inkarnation
eines Machos ist. Jetzt wollte ich einmal die andere Seite schildern.
Wer außer Ihren Großmüttern waren Ihre Beraterinnen?
Nun, meine erste und meine jetzige Ehefrau und alle Frauen, die ich geliebt
habe. Ich habe ihnen gut zugehört.
Das Interview von Martina Scherf ist in der Süddeutschen Zeitung am 16. Mai 2000 erschienen.