Wo eigentlich liegt Tequila?

Den weltbekannten Alkohol und den Ort, in dem viele der renommierten Destillerien angesiedelt sind, stellt der Journalist und Lateinamerika-Spezialist Michael Allhoff vor.

In seinem Spaziergang durch das beschauliche Städtchen beschreibt er die traditionelle Form der Tequila-Erzeugung und die Pflanze, die Ursprung jedes reinen Tequilas ist: die "Blaue Agave". Die Erläuterungen zur Bedeutung des Getränks in der mexikanischen Geschichte reichen bis in die Chronik Tonalmatl Nahuatl aus dem Jahr 1116 zurück. Die Auflösung eines in Deutschland gerne gepflegten aber falschen Bildes über die Art und Weise des "klassischen" Tequila-Trinkens darf nicht fehlen.

 

Stachelige Herzen

Die Wahrheit liegt bei 100 Prozent: In der Sierra Madre lebt ein mexikanisches Städtchen vom Feuerwasser aus der Agave


Die hölzernen Schwingtüren der weiß getünchten Cantina La Capilla knarren beim Eintreten. Der alte Wirt hinter der Theke schaut kurz auf, schweigt und trinkt weiter. Im dämmrigen Licht der Schnapsschenke scheint sich seit den Wirren der mexikanischen Revolution nichts verändert zu haben. La Capilla, zu deutsch "Das Gotteshäuschen", ist die älteste Cantina von Tequila. Der traditionsreiche Krug an der Ecke der holprigen Pflastersteingassen Miguel Hidalgo und Avenida Mexico eröffnete 1934, zu einer Zeit, als die Revolution ihre Helden Pancho Villa und Emiliano Zapata längst begraben hatte.

Maultiere und bauchige Kupferkessel

Javier Delgado schenkt wortkarg nach. Goldschimmernd gluckert Tequila ins Glas. "100 Prozent Agave" steht auf dem Flaschenetikett. Beim zweiten Glas wird der schweigsame Wirt gesprächiger und erzählt von früher. Von damals, als der Tequila noch in Heimerzeugung gebrannt wurde. Als riesige, von Eseln gezogene Mühlsteine die Kakteenherzen zermalmten und der Agavenmost zwei Wochen lang gären durfte, bevor er über Feuern aus Scheitholz destilliert wurde. Vergilbte Schwarzweißfotos von 1908 an der Wand illustrieren seine Nostalgie: Maultiere sind auf ihnen zu sehen, schwer beladen mit Agaven; bauchige Kupferkessel, in denen der Kaktussaft erhitzt wurde und feuchtfröhliche Trinkszenen aus der Cantina, dieser typischen Stätte mexikanischer Trunkenheit in geschlossener Macho-Runde.

Draußen herrscht glühende Mittagshitze. Kein Mensch ist auf den Straßen von Tequila zu sehen. Die 35 000 Bewohner des Ortes in der Sierra Madre halten Siesta. Auf dem Dorfplatz vor der Kirche La Purísima dösen vier Männer im Schatten der Orangenbäume. Kinder verkaufen für fünf Pesos das Stück quiote, die gekochten Blütenstengel der weiblichen Agave. Gekaut und gelutscht schmecken sie saftigfrisch wie wilder Honig. Der Schnaps Tequila hat dem wüstenkargen Landstrich im Westen Mexikos zu Weltruhm verholfen.

Tequila Weber Azul

"Die Agave", schwärmte ein französischer Reisender des 19. Jahrhunderts, "ist das kostbarste Geschenk, das die Natur Mexiko gemacht hat - nach dem Mais und der Banane. " Nur hier, in einer Region so groß wie Schleswig-Holstein 600 Kilometer nordwestlich von Mexiko-Stadt, werden die jadegrünen, schlankwüchsigen Agaven der Art "Tequilana Weber Azul" - eine von über 150 Agavenarten Mexikos - für die Erzeugung des mexikanischen Hochprozentigen angebaut. Auf 43 000 Hektar, verteilt über 6000 karminrote Ackerfelder in einer Höhe zwischen 700 und 2900 Metern vulkanischer Erde gedeihen die rund 150 Millionen Agavenpflanzen, die dem mexikanischen Nationalgetränk seinen unvergleichlichen Geschmack verleihen. Tequila ist aufwendig in der Herstellung: Jede Kaktuspflanze wächst zehn Jahre, bevor sie von den Landarbeitern in der schweißtreibenden Hitze der Sierra Madre geerntet werden kann.

Die Kleinstadt Tequila, eindrucksvoll gelegen inmitten endloser Agavenhaine am Fuß des erloschenen Vulkans Cerro de Tequila und vor dem Steilbruch einer 800 Meter tiefen Schlucht, hat sich ihre dörfliche Atmosphäre über die Jahrhunderte bewahrt. Weißgetünchte flache Steinhäuser säumen enge Gassen, die teilweise asphaltiert, größtenteils aber noch gepflastert sind. Das Städtchen prosperiert seit vielen Jahrhunderten mit dem Feuerwasser aus der Agave.

Tequila und die mexikanische Historie

Bereits im Jahr 1600 wurde in Tequila die erste Schnapsbrennerei von Don Pedro Tagle gegründet. Das aus Lehmziegeln erbaute Stammhaus des spanischen Marqués steht in der Calle Madero 37. Schmiedeeiserne Tore, Steinmosaike mit Springbrunnen unter scharlachrotem Bougainvilla im Patio und französische Louis XVI. -Möbel in den Wohnräumen zeugen von dem Reichtum kolonialer Großgrundbesitzer vor der Revolution.

Der Schnaps Tequila ist untrennbar mit der mexikanischen Historie verbunden. Kaum eine andere Spirituose der Welt blickt auf eine derart lange wie andekdotenreiche Geschichte zurück. Die erste Erwähnung der Tequila-Agave findet sich in der Chronik Tonalmatl Nahuatl aus dem Jahr 1116. Einer der acht Stämme der Nahuatlacas musste sich dieser Handschrift zufolge auf Anordnung der Götter des Krieges und des Wassers (Huitzilopochtli und Tlaloc) trennen und ihren Namen in Mexica ändern - "die sich von Mexcalli ernähren".

Mexcalli nannten sie die Herzen der Agave zu Ehren ihres Gottes Mextli (von metl = Agave und xictli = Nabel). Sie sollten den Adler suchen, der auf einem Nopalkaktus sitzt und eine Schlange frisst. Dies sei das Zeichen, dass der Stamm sich niederlassen könne. 1325 wurde der Ort gefunden und Mexico-Tenóchtitlan - heute Mexiko-Stadt - gegründet. Der Adler mit der sich windenden Schlange im Schnabel wurde zum mexikanischen Nationalemblem, das auf jeder Fahne und vielen Peso-Münzen prangt. Die Azteken zerkleinerten die gekochten Agavenherzen im Mörser und vergoren das Gebräu mit Wasser. Dieser sogenannte mexcal diente den präklassischen Hochkulturen Mexikos als Rauschgetränk und religiöser Opferwein - ein Genuss, der jedoch Königen, Stammesältesten und Priestern vorbehalten war.

Purer Genuss kostet mehr

"Tequila ist nur dann wirklich Tequila, wenn er zu 100 Prozent aus Agave destilliert wird," sagt der Tequila-Connaisseur und Destillerie-Besitzer Guillermo Romo. Doch authentischer Tequila ist rar. Denn die gültige mexikanische Gesetzesnorm NOM-006-SCFI klassifiziert in Tequila "100 Prozent Agave" ("allein aus dem Most von Agavenzucker") und einfachen Tequila (aus "Most mit Zusatz von bis zu 49 Prozent Zuckeranteilen, die nicht aus der Agave Tequilana Weber Azul stammen"). Ein legales, aber nicht legitimes Urteil, kritisieren Experten.

Der authentische Genuss hat seinen Preis: Zwischen 40 und 150 Mark kostet eine Flasche Tequila "100 Prozent Agave". Mexikaner genießen diesen Schnaps für Kenner als Digestiv nach einem opulenten Abendessen. Pur selbstverständlich! Kein Salz. Keine Zitrone. Schon gar keine Orange und erst recht kein Zimt.


Dieser Artikel von Michael Allhoff ist in der Süddeutschen Zeitung am 12. Dezember 2000 erschienen.

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