Tim Böseler beschreibt sehr anschaulich seine Beobachtungen und Erlebnisse der ersten Tage in Mexiko. Auf die unbequeme Zeit im Wartesaal des Busbahnhofes in Mexiko-Stadt folgt in Guadalajara ein zaghafter Empfang. Durch die verwirrenden Straßen der Metropole gelangt er zu seiner neuen, einfach ausgestatteten Wohnung. Mit der ersten, aufregenden Busfahrt taucht er in das Alltagsleben der mexikanischen Straßen ein. Er erlebt die Stimmung in den sehr unterschiedlichen Vierteln der Millionenstadt, an kleinen Straßenläden, in der Universität und einem modernen Supermarkt. Schöne und erschreckende Erfahrungen sammelt er beim Zusammenprall der deutschen und mexikanischen Kultur, der Begegnung mit einer Kakerlake, im schönen historischen Zentrum, in Gesprächen mit mittellosen Kindern, in Nobeldiscos und beim Anblick einer Pistole. Nach kurzer Zeit gewöhnt er sich an einen wichtigen Aspekt der mexikanischen Lebensweise.
Sieben Stunden auf dem Fußboden warten
Ein zweites T-Shirt hätte ich mir doch mitnehmen sollen.
Jetzt muss das schon zwei Tage getragene eben noch für einen dritten
reichen. Ein frisches Paar Socken wäre auch nicht schlecht. Das hat man
nun davon, wenn man unbedingt so wenig Handgepäck, wie es gerade geht,
mit auf die Reise nimmt und zu faul ist, im großen Rucksack nach den
entsprechenden Sachen zu kramen.
Frankfurt, Madrid und Mexiko City - das waren die bisherigen Stationen. Die
Endstation der Tour liegt aber noch etwa 500 km in Richtung Nordwesten. Dort,
im mexikanischen zentralen Hochland auf einer Höhe von 1.600 m, befindet
sich Mexikos zweitgrößte Stadt, die kaum einem Mitteleuropäer
als solche bekannt ist und den meisten erhebliche Anstrengungen bei der richtigen
Aussprache abverlangt: Guadalajara - für gute sieben Wochen mein neues
Zuhause.
Der Wartesaal des Busbahnhofs in Mexiko D.F. ist völlig überfüllt,
ein Platz nicht mehr zu haben. Sieben Stunden bis zur Abfahrt des Busses auf
dem Boden warten? Etwas anderes bleibt mir nicht übrig. Also strecke
ich mich der Länge nach hin, schiebe alle Habseligkeiten unter meinen
Kopf und versperre so den Reinigungstrupps den Weg, die jede Stunde mit überdimensional
großen Besen die Halle kehren. Ich döse so vor mich hin, nehme
ab und an einen Schluck aus der Modelo-Dose und kriege von dem geschäftigen
Treiben um ich herum gar nicht so viel mit. Einige Skatrunden mit Reisekumpanen
und noch mehr cerveza lassen die Zeit schnell vergehen.
Zaghaftes Schulterklopfen, Verlegenheitsfloskeln
Der Bus rauscht durch die Nacht. Sechs oder sieben Stunden lang.
Immerhin kann ich in dem überraschend geräumigen Überlandbus
der ersten Klasse ein bisschen schlafen.
Es ist dunkel, als der Bus an der central camionera von Guadalajara einläuft.
Aufregung macht sich breit. Wie sind wohl die Gasteltern? Ist Guadalajara
wirklich so groß? Schlagartig ist man hellwach, die Strapazen der langen
Fahrt hinter sich lassend. Aber anstatt zumindest von einem Teil meiner Gastfamilie
abgeholt zu werden, müssen Lars und ich noch auf Luis warten. Schließlich
kommt ein noch nicht ganz ausgeschlafen wirkender Mann mit Jeans und Lederjacke
auf uns zu. Es ist Luis. Die Begrüßung fällt kurz aus. Händeschütteln,
zaghaftes Schulterklopfen, Verlegenheitsfloskeln und unentwegtes Nachdenken,
was man denn nur sagen könnte.
Mit dem Taxi, in den nächsten Wochen neben dem Stadtbus mein Hauptverkehrsmittel,
geht es weiter. Allmählich taut Luis auf, genauso wie Lars und ich. "Habt
ihr euch mich so vorgestellt", fragt er aus heiterem Himmel im guten Englisch.
"Ich dachte, du wärst viel jünger", lautet meine prompte Antwort.
Schweigen. Dann dreht Luis seinen Kopf zu mir hin und legt ein charmant-künstliches
Lächeln auf: "Wieso, findest du 23 schon alt?" Dazu fällt mir spontan
nichts ein, ist Luis doch nur zwei Jahre älter als ich. Aber den Eindruck
eines 23-Jährigen macht er nun wirklich nicht.
Die Straßen verlaufen nur geradeaus. Kurven sind hier Mangelware.
Manchmal biegt die Taxe an einer Kreuzung links oder rechts ab, und dann geht
es wieder einige Minuten schnurgerade weiter. Für einen Menschen mit
meiner Vergangenheit, der an mitteleuropäische Städte mit keineswegs
schachbrettartigen Straßenverläufen gewöhnt ist, ist die Orientierung
schnell dahin. Kein Wunder also, dass ich mich während der ersten Tage
in meiner neuen Heimat mehrmals verlaufe. Luis erläutert mir daraufhin
das System - es gibt wirklich eins -, das hinter der Straßeneinteilung
und der Hausnummerierung steckt. Guadalajara ist in vier Sektoren - Libertad,
Hidalgo, Juarez und Reforma - aufgeteilt, welche wiederum ihre eigenen colonias
haben. In den vier Sektoren gilt Folgendes: Straßen, die von Osten nach
Westen gehen, haben ungerade, nordsüdwärts verlaufende Straßen
tragen gerade Nummern. Aufgrund der senk- und waagerechten Anordnung der Straßen
liegen zwischen zwei Kreuzungen in der Regel fünfzig Hausnummern, die
mit zunehmender Distanz vom Stadtzentrum größer werden. Natürlich
gibt es auch bei diesen Faustregeln einige Ausnahmen, wie ich später
noch feststellen werde.
Es scheint hier keine Straßenschilder zu geben. Manche Kreuzungen sind
mit Ampeln ausgestattet. Aber Straßenschilder? Höchstes ein paar
wenige Hinweisschilder, auf denen die Kilometerangaben für Puerto Vallerta,
Mexico D.F. oder den Lago de Chapala stehen. Später erklärt mir
ein Taxifahrer meines Alters in einer einigermaßen verständlichen
Mischung aus Englisch und Spanisch die Vorfahrtsregeln: Bus vor allen anderen,
stärkeres Gefährt vor einem schwächeren und Mann vor Frau.
"Und was ist mit Radfahrern?" "Radfahrer? Die gibt es hier nicht."
Die kleine Küche mit dem einzigen Waschbecken
Nach zwanzig Minuten erreichen wir Luisī Haus: Ramos Arizpe,
Calle setentaydos, numero doscientosnoventaynueve, Colonia Magaña,
Sector Reforma. Lange Adresse, die man als Neuling in Guadalajara aber besser
nicht vergisst. Das Haus besteht aus einem Flur, an dessen linker und rechter
Seite jeweils ein Zimmer liegt und der im größten "Raum" des Hauses
endet. Eigentlich ist es eher ein Terrassenraum, denn es fehlt die Bedachung.
Links liegen das Duschklo, ein winziges Bad mit Toilette und Dusche und eine
kleine Küche mit dem einzigen Waschbecken des Hauses. Rechts befindet
sich ein weiterer Raum. Luis wohnt hier mit seinem jüngeren Bruder Carlos.
Beide studieren Informatik und sind mächtig stolz auf ihren eigenen PC,
der in dieser Umgebung völlig deplatziert wirkt. Lars und ich bekommen
das Zimmer von Luis, der sich während unseres Aufenthaltes mit Carlos
dessen Zimmer teilt. Unser gemeinsames Bett ist vielleicht 180 x 120 cm groß,
die gemeinsame Bettdecke ein bisschen größer. Ein erstes Probeliegen
zeigt aber, dass wir beide schon irgendwie genug Platz haben werden - ein
enges Zusammenrücken vorausgesetzt.
Luis überrascht uns mit einer Einladung zum Kaffee. Zwei Teelöffel
Instantpulver, vom Gaskocher erhitztes Wasser, das vorher aus einem 20 Liter
fassenden Wasserbottich gepumpt wurde, umrühren und fertig. Der Kaffee
ist wässerig und lauwarm, aber Lars und ich tun so, als ob er wirklich
vorzüglich schmecken würde. Luis schöpft keinen Verdacht.
Ich stehe noch halb auf der Straße - als der Bus die Reifen durchdrehen läßt
Langsam wird es hell in Guadalajara. Für Luis wird es Zeit,
zur Uni zu fahren. Völlig übermüdet begleiten Lars und ich
unseren Gastgeber. Als die Tür gerade ins Schloss schnappt, fällt
mir ein, dass ich immer noch nicht dazu gekommen bin, mir ein anderes T-Shirt
überzustreifen. Dann muss das alte eben noch für ein paar Stunden
herhalten.
An der nächsten Straßenkreuzung warten wir auf den Bus. Zahlreiche,
die meisten hoffnungslos überladen, heizen an uns vorbei. "Wann kommt
unser Bus denn?", frage ich genervt. "Gleich!" Also weiter warten. Einen übersichtlichen
Plan mit Abfahrtszeiten und Streckenverläufen, so wie wir es gewohnt
sind, gibt es hier nicht. Die Busse fahren so, wie sie wollen. Manchmal kommt
der, der bis kurz vor die Uni fährt, innerhalb von fünf Minuten
gleich zweimal vorbei. Doch manchmal kommt er auch nur einmal pro Stunde.
So wie jetzt. Als sich wieder zwei halbverrostete Stadtbusse mit kaum zu entziffernden
Nummern auf den Windschutzscheiben ein Wettrennen auf der dazu durchaus geeigneten
breiten Einbahnstraße liefern, springt Luis plötzlich auf die Straße
und reckt den Finger in die Höhe. Einer der beiden Busse, der Verlierer
also, muss wohl oder übel eine satte Bremsung hinlegen, damit wir drei
einsteigen können. Ich stehe noch halb auf der Straße, als der
Bus zur Verfolgungsjagd anfährt und die Reifen durchdrehen lässt.
Wir haben Glück. Es gibt tatsächlich noch freie Sitzplätze.
Den ungläubigen Blicken der anderen Fahrgäste ausweichend, setzen
Lars und ich uns schnell hin. Als Ausländer fällt man sofort auf.
Man braucht nur keine schwarzen Haare zu haben oder größer zu sein
als der Durchschnitt. Bei mir kommt beides zusammen, so dass ich die Mischung
aus Erstaunen und Entsetzen in den Gesichtern der Mexikaner noch häufiger
zu sehen bekomme.
Das Leben spielt sich auf der Straße ab
Guadalajara bei Tageslicht. Dichtgedrängte flache Häuser, auf deren Dächern die Hunde das Sagen haben, säumen den Straßenrand. Häufig kläffen einem die Biester mehr oder weniger direkt ins Ohr. Mobile Tacobuden an jeder Straßenecke, vor denen sich kleine Menschentrauben bilden; auf die Straße verlegte Wohn- und Esszimmer, die ständig den mächtigen Rußwolken der Busse ausgesetzt sind; Fußball spielende Kinder und in der Sonne pennende Alte - das Leben spielt sich auf der Straße ab. Außerdem: die abenteuerlichsten Fahrzeuge, die nur einem Grundsatz - Hauptsache Fahren - folgen. So wie der "Wassermann" mit seinem fahrbaren Ungetüm, auf dem sich zahlreiche 20-Liter-Wasser-Gefäße befinden - das Trinkwasser für Guadalajaras Bürger. Denn das Leitungswasser ist so verunreinigt, dass es nur zum Wäschewaschen, Saubermachen oder Duschen geeignet ist. Allerdings sehen das die Einwohner der Millionenstadt nicht ganz so eng. Da werden auch schon mal Obst und Gemüse oder die schmutzigen Teller mit Wasser aus dem Hahn abgewaschen. Für überempfindliche Mägen vom Rest der Welt eine willkommene Quelle, um mit Montezumas Rache Bekanntschaft zu machen.
Träume ersticken im Dreck der Vorstadtsiedlungen
Guadalajara kommt mir vor wie ein Dorf, ein großes Dorf.
Mittelgroße europäische oder US-amerikanische Städte wirken
weltstädtischer, kosmopolitischer. Erst als wir die Randbezirke hinter
uns lassen und auf eine der großen Hauptverkehrsadern, die Independencia
Sur, stoßen, erhält Guadalajara ein anderes Bild. Der Verkehr wird
dichter, die Häuser höher, weltweit bekannte Firmennamen prangen
plötzlich überall, und von der provinziellen Ruhe ist nicht mehr
viel zu merken. Als der Bus die sechsspurige Schnellstraße verlässt
und sich mühsam durch enge Gassen quälen muss, gewinnt Guadalajara
seinen dörflichen Charakter wieder zurück.
Fünf oder sechs Millionen Menschen leben hier. So genau weiß das
niemand. Sicher ist nur, dass die Zahl weiter ansteigt. Immer noch drängen
verarmte Bauern, die campesinos, aus dem Umland in die Metropole in der Hoffnung,
am urbanen Glück teilhaben zu können. Doch der Traum vom guten Job
mit gutem Verdienst erstickt schnell im Dreck der Vorstadtsiedlungen. Und
Guadalajara, Hauptstadt des Bundesstaates Jalisco, wächst weiter. Allein
die area metropolitana, also das reine Stadtgebiet Guadalajaras ohne die vielen
Vororte, ist schon mehr als 400 km² groß und umfasst annähernd
9000 Straßen.
Tacostände und Zeitungsverkäufer
Mit einer auffordernden Handbewegung deutet Luis plötzlich an, dass wir gleich aussteigen müssen. Nach einer guten Dreiviertelstunde. Auf einer größeren Straße laufen wir die letzten Meter bis zur Uni. Vorbei an Tacoständen, Zeitungsverkäufern und zwei Läden, die sich in ihrem Warenangebot um keinen Deut unterscheiden. Beide verkaufen exakt die gleichen goldschimmernden Pokale mit Fußballern oder Tennisspielerin auf dem Deckel und liegen gerade mal zwanzig Meter voneinander entfernt. Dies ist jedoch keine Seltenheit hier. Wenn man irgendwas kaufen will, dann schaut man sich in speziellen Straßen um, in denen sich nur Geschäfte mit der gesuchten Ware befinden. So gibt es einen Straßenzug mit Läden, die ausschließlich Brautkleider anbieten, oder einen, in dem ein Buchladen neben dem anderen steht.
Die Uni übertrifft die Erwartungen
Die Uni, rundum abgeschottet von einem starken Stahlzaun, übertrifft
meine Erwartungen. Um einen großen Campus scharen sich die bis zu fünfstöckigen
Gebäude, allesamt aus rotem Klinker. Auf dem weitläufigen Gelände
tummeln sich die Studenten. Frauen in Röcken oder Kleidern, seltener
mit Hose; Männer mit Jackett, manchmal mit Anzug, aber wenigstens im
frischen Oberhemd. Wieder fällt mir mein schon mehrere Tage getragenes
T-Shirt ein.
Luis führt uns zur Bibliothek. Dort, in den oberen Etagen bei den vielen
PCs, hat er seinen Arbeitsplatz. Er ist hier nämlich so eine Art Mädchen
für alles. Wenn irgendwo etwas nicht läuft, wenn sich wieder mal
ein Student hoffnungslos in einem Programm verlaufen hat, wenn einer der zahlreichen
PCs abstürzt, dann ist Luis zur Stelle. Jeder kennt ihn hier.
Die Bibliothek ist riesig. Nicht der Bücherbestand. Für den reichen
zwanzig noch nicht mal gänzlich gefüllte Regale aus. Riesig ist
vielmehr der Lesesaal, der zum einen aus vielen kleinen voneinander getrennten
"Lesekapseln" und zum anderen aus großen Diskussionstischen besteht.
Da sitzen sie dann, eingepfercht über ihren Büchern brütend
oder tuschelnderweise in großer Runde. Lars und ich lassen uns auf einer
Ledercouch nieder. Mir fallen augenblicklich die Augen zu.
"Are you tired?"
"Are you tired?", holt mich Luis aus meinem Dämmerzustand
zurück. Ich nicke nur stumm. Es geht weiter zu einem campusnahen Café.
Luis erzählt, erklärt und erläutert eine Menge, wovon ich aber
höchstens die Hälfte wahrnehme. Essen oder Schlafen. Etwas Wichtigeres
gibt es im Moment nicht für mich. Nach Luisī Empfehlung bestellen Lars
und ich uns jeweils einen Obstsalat mit Sahnejoghurt und Schokostreuseln.
Am frühen Abend sind wir wieder bei Luis. Ich falle auf der Stelle hundemüde
ins viel zu kleine Bett und schlafe ein - immer noch mit dem schmergen T-Shirt
am Leibe.
Im Supermarkt gibt es alles, was das Herz begehrt
Als ich aufwache, ist es draußen schon dunkel. Lars liegt
nicht mehr neben mir. Vom Flur dringen Geräusche zu mir. Lars und Luis
unterhalten sich. Gedankenaustausch zweier Informatiker. Man versteht sich
eben, wenn es um C++ oder Java geht. Die beiden kommen gerade von einem Supermarktbesuch
zurück. Auf mein Drängen hin zieht Lars mit mir nochmal los.
Der Supermarkt ist ein einziger Klotz mit großzügigen Parkmöglichkeiten
und wehenden Fahnen an der Vorderfront. Natürlich gibt es alles, was
das Herz begehrt. In der CD-Abteilung kann ich den neuen Silberling von Soundgarden
nicht liegen lassen. Wie auch, wenn der für nur umgerechnet knapp 13
Mark zu haben ist. Auf dem Weg durch das Labyrinth aus meterhohen Warenregalen
greifen Lars und ich uns einen Sixer Tecate-Bier, weil nach den Worten unseres
Gastgebers Corona oder Sol, beide sind mittlerweile sogar schon in meiner
Stammkneipe erhältlich, in der Regel nicht von Mexikanern getrunken werden.
Gegensätze verschiedener Kulturen prallen aufeinander
Abends prallen die Gegensätze verschiedener Kulturräume
voll aufeinander. Auf die Frage, ob ich mir etwas im Supermarkt gekauft hätte,
präsentiere ich stolz meine soeben erworbene CD. Carlos blickt mich ungläubig
an: "Die war doch bestimmt sehr teuer, oder?" Nach reiflicher Überlegung
antworte ich schließlich, dass sie im Vergleich zu den CD-Preisen in
Deutschland sehr günstig war. Jetzt will Carlos wissen, wie viel man
in Deutschland für eine CD hinblättern muss. "Na, bestimmt das zweieinhalbfache."
Carlos schüttelt mit dem Kopf und reibt sich über seine dünnen
schwarzen Schnurrbarthaare. Irgendetwas brabbelt er in Spanisch vor sich hin.
Wenn ich mir das nächste Mal etwas kaufe, werde ich Carlos davon wohl
besser nichts erzählen.
Zur Feier des Abends hat Luis einen Film aus der Videothek besorgt, denn Fernseher
und Videorecorder sind im Haushalt vorhanden. "Twelve Monkeys" schauen wir
uns an. Doch schnell wird meine Aufmerksamkeit auf Carlos gelenkt, der seine
Bierdose öffnet, eine Zitrone über der Öffnung auspresst und
dann noch Salz reinschüttet. Genüsslich zieht er dann an seiner
Dose. "Taste it", fordert er mich auf. Also gut, Zitronensaft und Salz ins
Bier - und... es schmeckt. Es schmeckt sogar richtig gut, und meine aufkommende
Lust nach einem "Alt Schuss" wird jäh im Keim erstickt. Nun sind wir
aber beim Thema: Bier- und Alkoholkonsum.
Luis stellt die ernst gemeinte Frage, ob wir Deutschen tatsächlich schon
zum Frühstück unser erstes Bier trinken. "Kommt schon vor", scherzen
Lars und ich, und Luis fühlt sich in seinem Vorurteil bestätigt.
"Aber dafür trinkt ihr doch ständig euren Tequila", fordern wir
ihn heraus. "Ich bestimmt nicht", empört er sich ein wenig.
Der erste Abend neigt sich dem Ende zu. Bruce Willis kämpft sich weiter
durch das Endzeitepos, das Bier versiegt viel zu schnell, und mir schmerzt
der Hintern von dem nur mäßig gepolsterten und viel zu kleinen
Küchenstuhl. Erleichtert über das Ende des Films, verabschieden
sich Lars und ich in Richtung Bett. Zuvor noch schnell die Zähne in der
Küche geputzt, und dann komme ich doch tatsächlich dazu, endlich
mein altes T-Shirt auszuziehen. Ein neues aus meinem Rucksack zu wühlen,
ist mir zu anstrengend. Nur noch schlafen will ich jetzt.
Langes Ausschlafen ist in Luisī Haus nicht möglich. Ab
7.00 Uhr morgens bimmelt draußen unentwegt der Wassermann, damit auch
jedermann weiß, dass er - wie jeden Morgen - wieder sein Aqua verkauft,
was er zudem auch noch lauthals verkündet. "Aaaagua, aaaagua!" Und dann
noch das Läuten seiner alten Handglocke. Außerdem bellt der Nachbarshund
heiser von seinem Dach aus in unser "Wohnzimmer" hinein, was durch das ganze
Haus schallt. Den leichten morgendlichen Schock, hervorgerufen durch eine
Kakerlake, die sich unglaublich schnell zwischen meinen Füßen fortbewegt,
während ich seelenruhig auf der Toilette sitze, vergesse ich schnell
wieder. Der nächste Tag beginnt. So oder so.
Das Abenteuer Busfahren in Guadalajara müssen Lars und ich nun alleine
überstehen. Es klappt auf Anhieb. Wir sind sogar recht pünktlich
an der Uni.
Das Centro Historico - Guadalajaras ganzer Stolz
Nachmittags in der Altstadt, im Centro Historico - Guadalajaras ganzer Stolz. Zu Recht, wie man nach nur wenigen Minuten unschwer erkennen kann. Blickfang, Wahrzeichen, Mittelpunkt und ein Monument der besonderen Art ist die unförmige Kathedrale mit den zwei in die Höhe ragenden spitzen Türmen. In der für lateinamerikanische Städte typischen rechtwinkligen, ja fast schon quadratischen Anordnung liegen in jeder Himmelsrichtung um die Kathedrale mehrere unterschiedlich große Plazas, die zum kurzen Verweilen einladen. Sich einfach auf eine der vielen grünen Bänke niederlassen und das geschäftige Treiben beobachten, während der Wind sanft durch die Bäume rauscht und das Wasser des Brunnens unaufhörlich vor sich hin plätschert. So oder ähnlich verbringen die Tapatios, Guadalajaras Einwohner, ihre Mittagspause oder ihren Feierabend. Mit Taco und Zeitung in der Hand setzen sich die Wohlhabenderen mindestens einmal pro Tag auf die thronartigen Sitze der Schuhputzer, die auf jeder Plaza ihre Arbeit gewissenhaft verrichten. Mit ihren mehreren Putzgängen bringen sie jeden noch so dreckigen Schuh wieder zum Glänzen, so dass man unter Umständen seine eigenen Treter auf den ersten Blick gar nicht wiedererkennt.
Aus dem Straßenbild Guadalajaras sind sie ebenso wenig
wegzudenken wie die vielen Kinder, die alles tun, um an Geld zu kommen. Einfaches
Betteln ist allerdings eher die Ausnahme. Stattdessen versuchen sie, Kaugummis,
Nüsse, Aufkleber oder Schlüsselanhänger an den Mann zu bringen.
Mit zerlumpten Klamotten und häufig ohne Schuhe schleichen sie von Bank
zu Bank und preisen mit einem Mitleid erregenden Blick aus ihrem dreckigen
Gesicht ihre Ware an. Manche setzen sich neben dich auf die Bank, andere schleppen
ihre noch kleineren Geschwister mit sich, und wieder andere kleben dir Aufkleber
im Herzformat mit Sprüchen wie "Te gusto" aufs Hemd, wofür sie dann
entsprechend entlohnt werden wollen.
Juan sehe ich fast jeden Tag auf der Plaza de los Tres Poderes. Er verkauft
geröstete Mandeln. Jedesmal wenn er mir welche zum Kauf anbietet, rattert
er seine Geschichte runter. Ich verstehe anfangs gar nichts. Erst später,
nachdem ich ihn schon öfter getroffen habe, glaube ich, ein paar mir
verständliche Wörter zu hören.
"Keine Mama, keinen Papa. Ganz allein. Geld für ein paar Tacos."
Ich gebe ihm meistens ein wenig Geld. Mehr als ein Tropfen auf den heißen
Stein ist das allerdings nicht.
Mit der Zeit stelle ich einen seltsamen Wandel bei mir fest. Die Kinder gehen
mir auf die Nerven. Wenn bei fast jeder Busfahrt jemand seine krächzende
Stimme erhebt, um mit dieser fernab jeglicher Melodien ein paar Lieder zu
schmettern, oder wenn bei jedem Gang durch die Stadt gleich Scharen von kleinen
Knirpsen an deinen Hosenbeinen zerren, dann versiegt irgendwann das Mitleid.
Je mehr Elend man gesehen hat, desto mehr kann man auch ertragen. Man stumpft
einfach ab, und nach einem Monat beachtet man die Kinder nicht mehr. Auch
Juan verliert irgendwann meine Aufmerksamkeit.
Die Discotempel der Avenida Vallarta
Im krassen Gegensatz zu der allgegenwärtigen Armut auf der Straße steht das Nachtleben. In den Discotempeln der Avenida Vallerta trifft man die Reichen und die Schönen, die unter ihresgleichen rauschende Fiestas feiern. Strenge Auswahlkriterien von übermächtigen Türstehern sorgen dafür, dass man unter sich bleibt. Ausnahme bilden nur die meist zahlungskräftigen Ausländer. Ansonsten achten die Rausschmeißer drauf, dass nur das richtige Publikum in die aufwendig gestalteten Tanzoasen strömt. Abgewiesene müssen woanders einen neuen Versuch starten. Oder greifen kurzerhand zur Knarre und legen den Muskelberg vom Eingangsportal brutal um, wie ich eines Tages in den Lokalnachrichten zu hören bekomme.
Die Mündung der Schnellfeuerpistole
Die Polizei reagiert auf solche Zwischenfälle mit ihren eigenen Methoden. Eines Nachts lasse ich mich zusammen mit Lars und Luis von einem Taxifahrer an einer Blockecke absetzen, so dass wir noch gute 100 Meter bis zu Luisī Haus laufen müssen. Plötzlich biegen zwei Polizeiwagen mit quietschenden Reifen um die Ecke und machen vor unseren Füßen eine Vollbremsung. Vier Polizisten springen in voller Montur aus ihren Autos, zwei von ihnen mit angehaltener MP. Im barschen Ton weisen sie uns zurecht, Luis versucht sich kleinlaut zu beschweren, doch ehe wir es uns versehen, stehen wir schon mit ausgebreiteten Armen und Beinen am Polizeiwagen und müssen uns einer Leibesvisitation unterziehen. Dann werden noch unsere Papiere durchgeguckt, und so schnell dieses Quartett erschien, so schnell ist es auch schon wieder verschwunden. Luis versucht, sich zu entschuldigen, faselt irgendetwas von erhöhter Sicherheitsbereitschaft, doch ich habe nur noch die Mündung der Schnellfeuerpistole im Kopf, die auch mal auf mich gerichtet war. Für einen Moment bin ich einfach nur sprachlos, und der leichte Nebel in meinem Hirn, hervorgerufen durch einige Biere, ist wie auf Knopfdruck verschwunden. Was die wohl gemacht hätten, wenn ich mein Taschenmesser in der Hosentasche oder wenn ich meinen Ausweis nicht dabei gehabt hätte?
Die Tage ziehen dahin. Bald kommt mir Guadalajara schon richtig
vertraut vor. Man gewöhnt sich an das Chaotische, an die zwei Stunden
Busfahrt jeden Tag durch das riesige Straßenwirrwarr, an die vielen
Sicherheitskräfte, die an jeder Straßenecke mit ihren dicken Gewehren
den Eindruck eines Polizeistaates entstehen lassen, an die Bettler, die Schuhputzer,
die Taxifahrer, die mich als unverkennbaren Ausländer immer ausnehmen
wollen, und man gewöhnt sich auch an das mexikanische Zeitgefühl
und die damit verbundene Alltagsruhe. Warum soll man sich aufregen, wenn man
etwas verpasst, wenn man zu spät ist oder wenn man eine Verabredung vergisst?
Am nächsten Tag kann man das doch alles nachholen - oder auch nicht.